Margrit Stamm ist Erziehungswissenschaftlerin. Foto: Andreas Muhmenthaler
Margrit Stamm ist Erziehungswissenschaftlerin. Foto: Andreas Muhmenthaler
26.10.2018

«Die Perfektion drängt ins Hamsterrad»

Kann man sein Kind zu stark fördern? Sind Fehler in der Erziehung erlaubt? Erziehungswissenschaftlerin Margrit Stamm referiert im Zentrum Sagi.

Margrit Stamm, in Ihrem Referat «Entspannte Eltern – lebenstüchtige Kinder» werden Sie Wege für Eltern und Beziehungsberechtigte aus der «Perfektionsspirale» aufzeigen. Was bedeutet dieses Wort? Ab wann gilt man als Perfektionist in Sachen Erziehung?
Eltern stehen unter enormem Druck, immer alles richtig machen zu wollen. Ihre Kinder gut zu betreuen, zu fördern, einen liebevollen Umgang zu pflegen. Dauerhafte Präsenz zu leisten für die Kinder. Damit ist die Perfektionsspirale gemeint. Perfektionist ist, wer immer darauf bedacht ist, seinen Kindern möglichst gute Frühförderung zu ermöglichen, aus ihnen gute Schüler, erfolgreiche Sportler, beliebte Kindergärtner zu machen. Mütter, die als Perfektionistinnen gelten, sehen häufig auch noch gut aus, lösen bei Aussenstehenden oft Neid, Bewunderung und Unglaube aus. «Wie schafft sie das alles?»

Womit hängt der Drang der Eltern nach Frühförderung für Kinder zusammen? Sind die Gesellschaft und deren Erwartungen und Ansprüche daran schuld?
In der Tat werden Eltern heute oft schuldig gesprochen. Von der Gesellschaft und von der Bildung kam in den letzten Jahren vermehrt die Botschaft, dass sich die Eltern zu kümmern haben. Dass die Eltern eine zentrale Rolle für die Bildung der Kinder einnehmen. Doch eigentlich sollte es heissen: Liebe Eltern, hört damit auf, eure Kinder zu fördern. Es ist aber eine logische Konsequenz, dass Eltern dies tun, weil es von der Politik und Gesellschaft so gefordert wird.

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Wie gefährlich schätzen Sie die Perfektionsspirale für Kind und Eltern ein?
Aus relativ vielen Forschungsstudien ist bekannt, dass diese nicht als hochdramatisch zu bezeichnen ist. Es ist aber eine Tendenz spürbar, dass Kinder heute auf vielen Ebenen einfach perfekt zu sein haben. Dass sie die elterlichen Erwartungen erfüllen müssen, die elterliche Liebe gar mit Erfolgserlebnissen gekoppelt ist. Das führt vermehrt zu psychischen und körperlichen Problemen. Kinder sind natürliche Seismografen, die spüren, wie wichtig den Eltern ihre Beliebtheit im Kollegenkreis ist, wie wichtig tolle Schulnoten sind.
Aber auch für die Eltern ist dies ein Problem. Immer mehr Mütter geraten in ein Burn-out, weil sie der Drang nach Perfektionismus in ein dauerndes Hamsterrad drängt, aus dem sie keinen Ausstieg sehen. Wichtig scheint mir das Bewusstsein, dass auch die Eltern Fehler machen dürfen. Das würde auch die Kinder entlasten.

Heute gibt es Ratgeber für beinahe jedes Thema, und es scheint mittlerweile gang und gäbe zu sein, Ratgeber zur Hilfe zu ziehen. Was halten Sie von Erziehungsratgebern?
Ich lehne Ratgeber nicht ab, stehe dem Einsatz aber eher kritisch gegenüber. Stützen sich Eltern zum Beispiel auf die Ratgeber von Remo Largo, befinden sie sich auf der guten Schiene. Wichtig erscheint mir, dass man bei einem Ratgeber bei einer Richtung bleibt, und sich nicht laufend mit neuen Hilfsmitteln eindeckt. Die Inkonstanz, die das zur Folge hätte, würde von den Kindern eins zu eins bemerkt und würde verunsichern.
Ist es für Laien und junge Eltern überhaupt möglich, in diesem Dschungel an Informationen die richtigen zu finden und umzusetzen?
Wichtig erscheint mir, dass junge Eltern selbstbewusst sind. Dass sie sich gegen Aussenmeinungen von Freunden, von Grossmüttern, von Schwiegermüttern und Arbeitskolleginnen schützen können und standfest bleiben. Es scheint mir auch hier eine Konstanz wichtig, und dass eine eingeschlagene Richtung nicht dauernd wieder angepasst wird. Gerade junge Eltern werden von «Expertenmeinungen» geradezu überflutet, egal, ob es im Bus oder wo auch immer ist.

Es zeichnet sich ab, dass heute wieder früher geheiratet wird und vermehrt junge Paare Kinder kriegen. Beobachten Sie, dass jüngere Elternpaare vermehrt bildungsorientiert erziehen und «Über-Eltern» sein wollen?
Ein spannendes Thema. Ich kenne dazu keine wissenschaftliche Studie und kann mich nur auf Fallstudien stützen. Aus meinen Erfahrungen kann ich aber feststellen, dass vor allem ältere Eltern bildungsorientierter erziehen. Man kann sich das so vorstellen: Die Mütter waren vielleicht lange berufstätig, haben Karriere gemacht, und da kommt da dieses Kind. Aus diesem möchte man das machen, was man sich vorstellt. Und diese Vorstellungen können sehr klar sein. Ich würde eine Hypothese wagen: Junge Eltern gehen spontaner und natürlicher an die Erziehung heran. Ältere wenden gezieltere und genauere Vorstellungen an.

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Irgendwann kommt der Zeitpunkt, an dem ein Kind selbstständig wird, eigene Wege geht und auszieht. Man fühlt sich leer und auf einmal auch viel weniger gebraucht. Wie soll man damit umgehen? Kann man sich als Elternteil darauf vorbereiten?
Ein ganz wichtiges Thema, das in unserer Gesellschaft immer wieder unterschätzt wird. Als Eltern plant man immer relativ kurzfristig. Zuerst kommt der Kindergartenbesuch, der Wechsel in die Schule, dann der Übertritt ans Gymnasium. Man ist mit der Pubertät der Kinder beschäftigt und weiss zwar im Hinterkopf, dass der Moment kommen wird, wenn die Kinder ausfliegen. Wenn der Moment dann aber da ist, trifft es einen viel stärker, als man sich das wohl vorstellen konnte. Auch mir, als Wissenschaftlerin und Mutter, hat der Auszug meiner beiden Kinder den grössten Schmerz überhaupt bereitet. Auf diesen Herzschmerz sollten sich Eltern vermehrt vorbereiten. Aber nicht nur darauf, sondern auch darauf, wieder mehr Zeit als Paar zu haben. Viele Paare müssen sich wieder neu definieren. Eine wichtige Phase der Ehe.


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