Vielerorts wird die Legitimation der Gemeindeversammlung als bröckelnd empfunden. In Sursee aber hat die Institution zahlreiche «Angriffe» überlebt. Foto zVg
Vielerorts wird die Legitimation der Gemeindeversammlung als bröckelnd empfunden. In Sursee aber hat die Institution zahlreiche «Angriffe» überlebt. Foto zVg
06.03.2019

«Parlament braucht aktive Ortsparteien»

Die Legitimation der Gemeindeversammlung bröckelt. So lautet der Tenor vielerorts. Doch ist ein Gemeindeparlament die bessere Alternative? Nicht unbedingt, sagt Politologe Andreas Ladner.

In zwei Wochen stimmt Sursee über die Ortsplanungsrevision ab. Bis zu 1000 Stimmbürger erwartet der Stadtrat in der Stadthalle. Das ist rekordverdächtig, beträgt die Teilnehmerzahl an ordentlichen Gemeindeversammlungen im besten Fall doch nur ein Bruchteil davon. Nicht erst seit gestern (siehe Kasten) kurbelt dies in Sursee die Diskussion um die Legitimität der Gemeindeversammlung an.

«Es kann nicht sein, dass einige Dutzend Personen über Themen befinden, die 10’000 betreffen», monieren Kritiker in Sursee – darunter auch die Grünen und die SVP. Beide Ortsparteien sprachen sich 2015 für die Abschaffung der Gemeindeversammlung aus. Anstelle derer sollten die Surseer künftig an der Urne über Sachgeschäfte abstimmen können. Doch daraus wurde nichts: Die Stimmbürger schickten die SVP-Initiative an der Gemeindeversammlung im Dezember bachab.

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Ortsplanung ist die Feuerprobe

Braucht es in Sursee ein Gemeindeparlament, das die Anliegen der Bevölkerung stärker repräsentiert? Soll künftig über wichtige Themen wie die Ortsplanung direkt an der Urne abgestimmt werden, sind die Beschlüsse der Stimmbürger damit breiter abgestützt? Stadtpräsident Beat Leu kennt die Diskussionen um das politische System der Surenstadt. Aktuell sieht er allerdings keinen Handlungsbedarf. «In Sursee haben wir starke Parteien, die jeweils gut an den Gemeindeversammlungen vertreten sind. Auch im Vorfeld der Versammlungen findet eine politische Diskussion statt, in der sich der Stadtrat mit Parteienvertretern und der Bevölkerung austauscht», sagt Leu.

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In gewissem Masse sei die Abstimmung über die Ortsplanungsrevision aber eine Feuerprobe. «Wir werden den Ausgang analysieren und Lehren daraus ziehen. So kann es sein, dass der Stadtrat zum Schluss kommt, dass es nicht mehr zeitgemäss ist, derart gewichtige Themen im Rahmen der Gemeindeversammlung abzuhandeln», sagt Leu.

 

«Debatten drohen einzuschlafen»

Ein Entscheid, der in Ruswil bereits 2012 gefallen ist. Seit diesem Jahr stimmt der Ruswiler Souverän über sämtliche Vorlagen an der Urne ab. Der Hintergrund seien ein Antrag der FDP sowie tendenziöse Abstimmungsresultate bei stark polarisierenden Traktanden gewesen, erklärt Franzsepp Erni. Der Gemeindepräsident stellt dem Entscheid der Stimmbürger, die Gemeindeversammlung abzuschaffen, ein mehrheitlich positives Zeugnis aus. «Die Gemeindepolitik wurde versachlicht. Es gibt nur noch ein Ja oder Nein an der Urne», so Erni. Weil die Stimmbeteiligung zugenommen habe, seien die Resultate zudem repräsentativer.

Die Gefahr von Urnenabstimmungen verortet Erni darin, dass die aktive Debattenkultur in der Gemeinde bisweilen einzuschlafen droht. «Die Orientierungsveranstaltungen vor den Abstimmungen sind nie so attraktiv wie Gemeindeversammlungen, weil keine Abstimmungen stattfinden», sagt Franzsepp Erni. Der Gemeinderat müsse deshalb aktiv Kontakt zu den Parteien und der Bevölkerung suchen. Die Frage, ob ein Gemeindeparlament eine Alternative wäre, verneint Erni. «Bei 7000 Einwohnern sind wir mit der Urnenabstimmung auf dem richtigen Weg. Ein Gemeindeparlament macht es nicht einfacher.»

 

«Es braucht Schutzmechanismen»

Dieser Meinung ist auch Andreas Ladner. Der Politologe ist Direktor des Instituts für öffentliche Verwaltung der Universität Lausanne. «Es ist falsch, zu denken, mit einem Gemeindeparlament seien alle Probleme gelöst», sagt Ladner. Ob das Parlamentssystem Vorteile mit sich bringe, hänge stark von der Parteienlandschaft einer Gemeinde ab. «Ein Parlament braucht aktive Ortsparteien, die es bestücken.» Dies sei oft erst der Fall in grösseren Gemeinden, die auch politische Gräben kennen würden.

Was gross heisse, sei zudem von Region zu Region unterschiedlich, sagt Ladner. Während in Bern ab 6000 Einwohnern über ein Gemeindeparlament diskutiert werde, sei dies in Freiburg bereits ab 4000 Einwohnern der Fall, in der Zentralschweiz erst ab 10’000.

Trotzdem sieht Ladner die Einwände gegenüber der Gemeindeversammlung teilweise als gerechtfertigt. Weil die Legitimität der Versammlung vielerorts als bröckelnd empfunden werde, sei es umso wichtiger, dass das Versammlungssystem Schutzmechanismen kenne. «Gegen Versammlungsentscheide, die jenseits von Gut und Böse sind, müssen Stimmbürger das Referendum ergreifen können», sagt Ladner. Auch lohne es sich darüber nachzudenken, ob Gemeinderäte wichtige Geschäfte nicht gleich von Beginn weg an die Urne überweisen müssten.

 

Versucht und gescheitert

Die Gemeindeversammlung ist das oberste politische Organ von Sursee. So steht es in der Gemeindeordnung der Stadt. Nicht immer war das unumstritten.

1973 sammelte ein Initiativkomitee 910 Unterschriften und forderte die Einführung eines Einwohnerrats. «Die Gemeindeversammlungen von Sursee sind mangelhaft besucht. […] Wir finden es unbefriedigend, wenn so wenige über Wohl und Weh der Gemeinde entscheiden, denn diese kleine Gruppe ist für unsere Stadt nicht mehr repräsentativ», liess das Komitee damals im «Luzerner Landboten» verlauten. 813 von insgesamt 4031 Stimmberechtigten nahmen an der ausserordentlichen Gemeindeversammlung auf dem Märtplatz teil. Doch das Versammlungssystem hielt sich: 274 Stimmberechtigte sprachen sich für einen Einwohnerrat aus, 530 erteilten ihm eine Abfuhr.

1981 war das Thema innerhalb der Kommission für die Überprüfung der Surseer Gemeindeorganisation nochmals aktuell. Im Verhältnis 14:1  hielt die Kommission fest, dass es in Sursee vorerst keinen Einwohnerrat brauche – allenfalls, wenn die Einwohnerzahl 10’000 überschritten habe.

 

Auch die SVP scheiterte

Der letzte Akt im Ringen um das «urdemokratische» Gefäss fand 2015 statt. Ein Jahr früher, im Oktober 2014, reichte die SVP Stadt Sursee 553 beglaubigte Unterschriften ein. Die Partei forderte mit der Initiative «Ausbau der direkten Demokratie» die Abschaffung der Gemeindeversammlung und die Einführung von Urnenabstimmungen. Die Partei scheiterte. Die Stimmbürger lehnten die Initiative mit grossem Mehr ab.


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