Das Thema der Suizidbeihilfe im Alter verlagert sich von der Stadt aufs Land, sagt Roger Wicki, Präsident von Curaviva Luzern. Symbolbild Keystone
Das Thema der Suizidbeihilfe im Alter verlagert sich von der Stadt aufs Land, sagt Roger Wicki, Präsident von Curaviva Luzern. Symbolbild Keystone
17.04.2019

Suizidbeihilfe stellte regionale Pflegeheime vor Herausforderungen

Die Zahl der assistierten Suizide im Alter nimmt zu. Das stellt die Pflegeheime vor Herausforderungen. Roger Wicki, Präsident von Curaviva Luzern, fordert von den Institutionen eine klare Haltung.

Roger Wicki ist Präsident von Curaviva Luzern und Co-Geschäftsleiter des Pflegeheims Seeblick in Sursee.

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Roger Wicki, seit rund 20 Jahren nimmt die Zahl der begleiteten Suizide im Alter zu. Weshalb?

(Überlegt lange) Der Wunsch nach weniger Abhängigkeit, nach mehr Autonomie und nach einem selbstbestimmten Leben bis zum Schluss hat in den vergangenen Jahren zugenommen. Die Angst vor einer möglichen Demenz oder grossem, krankheitsbedingtem Leiden und der schwindende Stellenwert der Kirche, welche die Suizidbeihilfe zum Teil vehement ablehnt, haben diese Entwicklung sicher zusätzlich befördert. Auch auf politischer Ebene wurde das Thema in den vergangenen Jahren kontinuierlich enttabuisiert.

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Inwiefern?

Seit 2001 ist die Suizidbeihilfe in Alters- und Pflegeheimen der Stadt Zürich beispielsweise erlaubt, seit 2011 in Pflegeheimen, die der Stadt Luzern gehören. 2015 hat das Neuenburger Parlament im kantonalen Gesundheitsgesetz verankert, dass alle öffentlich anerkannten und subventionierten Pflegeinstitutionen assistierte Suizide in ihren Räumen zulassen müssen. 2017 bestätigte das Bundesgericht den entsprechenden Passus, nachdem die Heilsarmee die neue Regelung angefochten hatte.

 

Auffallend ist, dass mehr Frauen als Männer im Alter Suizidbeihilfe in Anspruch nehmen. Wie lässt sich das erklären?

Schwierig. Tatsache ist, dass heute 70 Prozent der Heimbewohner Frauen sind. Oft beschäftigen sich Frauen stärker und früher als Männer mit der Endlichkeit des Lebens. Dadurch entscheiden sie möglicherweise radikaler. Zudem spielt sicher auch eine grosse Rolle, dass oftmals die Frauen die Männer bis am Schluss zuhause pflegen.

 

Wie oft äussern Bewohner der regionalen Pflegeheime den Wunsch nach assistiertem Suizid?

Auf regionaler Ebene erfassen wir dazu keine Zahlen. Vorsichtig geschätzt, dürften es aber jährlich einer bis drei Fälle pro Heim sein.

 

Welchen Herausforderungen sehen sich die Pflegeheime gegenüber, wenn sie mit dem Wunsch nach Suizidbeihilfe konfrontiert werden?

Es gibt Pflegepersonen, welche die Sterbehilfe im eigenen Haus ablehnen, weil sie ihren eigenen Wertvorstellungen widerspricht. Das muss man akzeptieren. Es ist sinnvoll, wenn die Pflegeheime den Umgang mit Suizidbeihilfe reglementieren und dokumentieren. Wenn ein konkreter Wunsch nach assistiertem Suizid vorliegt, ist man froh, dass es klare Weisungen gibt.

 

Wie ist die Suizidbeihilfe im Pflegeheim Seeblick geregelt?

Der Sterbewunsch eines Bewohners darf nicht aus einem Moment heraus entstehen, und alle palliativen Massnahmen müssen ausgeschöpft sein. Der assistierte Suizid soll und muss eine Ausnahme bleiben. Beim Wunsch nach assistiertem Suizid entscheidet die Geschäftsleitung über das weitere Vorgehen aufgrund unserer internen Richtlinien Das ist ein intensiver Prozess, während dem wir alle möglichen Lösungen in Betracht ziehen.

 

Soll eine Pflegeinstitution kommunizieren, dass in ihrem Haus Sterbehilfe nicht erlaubt ist?

Ja, und zwar möglichst früh, das heisst beim Heimeintritt. Ist der assistierte Suizid in einem Pflegeheime erlaubt, raten wir hingegen davon ab, dies aktiv zu kommunizieren. Wir wollen die Suizidbeihilfe nicht aktiv befördern.

 

Wie gehen die Pflegeheime in der Region mit dem Wunsch ihrer Bewohner nach Suizidbeihilfe um?

Im Verband stellen wir fest, dass sich das Thema zunehmend von der Stadt aufs Land verlagert. Verschiedene Heime haben sich der Suizidbeihilfe im Rahmen von Workshops angenommen. Die meisten Institutionen gehen pragmatisch und offen mit dem Thema um. Wichtig ist, dass die Pflegeheime eine klare, reflektierte Haltung haben. Denn es geht nicht darum, was die Institutionsleitung als richtig empfindet, sondern was im Sinne der Menschen ist, die Suizidbeihilfe in Anspruch nehmen wollen. Und was man nicht vergessen darf: 40 bis 50 Prozent haben eine demenzielle Erkrankung. Hier kommt das Thema Sterbehilfe gar nicht auf.

 

Welche Haltung nimmt Curaviva dabei ein?

Der Verband will seinen Mitgliedern nicht vorschreiben, was sie zu praktizieren haben. Der Schweizer Dachverband stellt gute Grundlagenpapiere zu diesem Thema zur Verfügung. Diese sind neutral formuliert, vertreten aber eine klare Haltung: Die Autonomie der Bewohner und damit die Möglichkeit, Suizidbeihilfe in den Räumlichkeiten des Pflegeheims in Anspruch nehmen zu können, ist höher zu gewichten als die Haltung der Institution. Wer als öffentliche Institution staatliche Gelder bezieht, sollte sich nach den Empfehlungen der nationalen Ethikkomission richten und Suizidbeihilfe zulassen.

 

Braucht es dazu eine gesetzliche Regelung?

Das kantonale Gesundheitsgesetz, das aktuell revidiert wird, sieht keine Regelung vor. Ich bin aber überzeugt, dass früher oder später auch auf kantonaler Ebene eine solche Diskussion geführt wird. Heute wissen wir, dass es der Wunsch vieler ist, zuhause zu sterben. Mit dem revidierten Gesundheitsgesetz hat der Kanton erkannt, dass er deshalb auch die Palliativmedizin forcieren muss. Denn die kantonale Umsetzung der nationalen Palliativstrategie ist noch weit vom Ziel entfernt. Ein mobiles Palliativangebot, wie es der Kanton vorsieht, steht aufgrund der Kosten aber unter Druck. Ein solches würde Kanton und Gemeinden gemäss Vernehmlassung 600’000 Franken kosten.

 

Wo steht die Palliativpflege in den regionalen Pflegeinstitutionen?

Die palliative Versorgung gehört zu den Kernaufgaben der Pflegeheime. Viele Spitäler und Pflegeinstitutionen haben diesbezüglich Fortschritte gemacht und ihr Bewusstsein für die Palliativmedizin geschärft. Die mobile Palliativpflege, wie sie der Kanton vorsieht, ist aber nicht Teil der Grundversorgung und deshalb auch eine finanzielle Frage. Sie könnte aber vor allem dort helfen, wo die Nachfrage hoch ist, und damit die Spitzen brechen.

 

Sinkt die Zahl der Menschen, die mit einer Selbsthilfeorganisation aus dem Leben scheiden wollen, wenn die Palliativpflege ausgebaut wird?

Nein, das glaube ich nicht. Viele ältere Menschen möchten aber zuhause sterben. Die mobile Palliativpflege könnte diesen Anteil, der heute noch sehr tief ist, erhöhen.

 

Welchen Stellenwert hat die Suizidprävention in Pflegeheimen?

Zentral ist, dass man die Wünsche und Ängste der Bewohner ernst nimmt – unabhängig von Alter und Krankheitsbild. Der Wunsch nach begleitetem Suizid deutet immer auf eine Not hin. Diesbezüglich muss das Personal sensibilisiert sein und das Gespräch mit den Bewohnern suchen.


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