Die eigentliche Bewährungsprobe für die Truppensanität – hier ein Truppenarzt, der während des 1. Weltkriegs Schweizer Armeeangehörige untersuchte – kam mit der «Spanischen Grippe». Diese forderte zwischen 1918 und 1920 mindestens 25 Millionen Todesopfer. Foto Keystone/Photopress-Archiv/STR
Die eigentliche Bewährungsprobe für die Truppensanität – hier ein Truppenarzt, der während des 1. Weltkriegs Schweizer Armeeangehörige untersuchte – kam mit der «Spanischen Grippe». Diese forderte zwischen 1918 und 1920 mindestens 25 Millionen Todesopfer. Foto Keystone/Photopress-Archiv/STR
17.11.2018

1918: Die «Spanische Grippe» forderte auch in Sursee ihre Opfer

Mit geschwächten Völkern ist schlecht Krieg führen. Im November 1918 waren die grossen Gegner auf den Schlachtfeldern nicht nur kriegsmüde. Die «Spanische Grippe» schwächte und reduzierte ihre Truppen. Nicht nur der Grosse Krieg, auch die Grippe erschöpfte die Kräfte – auch bei uns in der Region.

«Wir haben schon die Revolut. gesungen. Morgen Donnerstag werden wir jedenfalls in Zürich sein», kalauert Louis Gut am 7. November 1918 auf der Karte aus Luzern an seine Frau Wally in Kaltbach. Mit «Revolut.» meint der Sanitätsgefreite offensichtlich das Lied von der Revolution, die da im Jahr zuvor in Russland über die Bühne gegangen ist. Richtig ernst ist es ihm dabei nicht, denn er mag sie nicht, weder die Revoluzzer noch die Bolschewiki. Er will vielmehr die Ängstlichkeit seiner jungen Frau zerstreuen, die seit seinem plötzlichen Aufgebot zum Generalstreik in Zürich um ihren Liebsten fürchtet.

Sie war mit ihrer Angst nicht allein. Auf dem Land misstraute man dem «Spiel», das ihnen da von der Armee und den sogenannten Bolschewiki aufgedrängt wurde. Die Heeresspitze hatte Truppen vom Land aufgeboten, wohl wissend, dass sie sich wohl verhalten und die Streikenden in Schranken weisen würden. Denn die Landbevölkerung hatte nichts mit dem Streik im Sinn, aber sie war auch sauer, dass ihre Soldaten zum Ende des Krieges nochmals einrücken mussten.

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Tote in Sursee

Schon in Luzern spürte der Sanitätsgefreite Gut, dass da neben dem Streik etwas anderes, Schlimmeres auf sie zukommt. Seit dem Sommer ist in den Zeitungen von der «Spanischen Grippe» die Rede. In Sursee hat man notleidende Kranke ins Waisenhaus aufgenommen. Es fehlt aber an Pflegepersonal, weil dieses selber erkrankt ist. Auch die Räumlichkeiten waren bald einmal zu eng. Vorsorglich  orientierte Stadtpräsident Jules Beck die Bevölkerung, dass man bald weitere Lokalitäten für die Kranken beanspruchen werde und dass man auf weiteres Pflegepersonal hoffe, und das aus der eigenen Gemeinde, weil andernorts das Personal auch knapp sei.

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Die Grippe forderte in Sursee wie andernorts ihre Opfer. Allein am 29. Oktober berichtet der Luzerner Landbote von sieben Grippetoten. Gleich daneben zählt die Rubrik «Kirchliches» fünf verstorbene Geistliche aus Innerschweizer Klöstern auf. Ebenfalls am 29. Oktober erlässt die Kantonsregierung  einen Beschluss. Danach sind Menschenansammlungen verboten, Gottesdienste zu kürzen, der Gesang in den Kirchen einzustellen. «Das Gedränge, speziell beim Verlassen der Kirchen, ist verboten».

Theater werden geschlossen, Märkte untersagt. Grippekranke dürfen weder Kirchen, Läden, Trams betreten, noch darf man sie besuchen. Wer sich nicht an die Weisungen des Kantons und der Gemeinden hält, wird strafrechtlich verfolgt.

 

Der 9. November

Sanitäter Louis Gut weiss um die prekäre Lage, als er am 8. November in Zürich eintrifft. Er bezieht mit seinen Kameraden Quartier im Hirschengraben-Schulhaus, wo man ihnen ein Strohlager bereitet hat. Dann gehts an die Arbeit: «Krankenuntersuch bis morgens um halb drei Uhr und um vier Uhr wieder Tagwache», schreibt er am 8. November.

Auf den 9. November ist in Zürich der Generalstreik angesetzt. Die Soldaten dürfen nur noch in Gruppen und halbstundenweise ihr Areal verlassen. Die Offiziere ziehen sich aus dem Hotel in das sicherere Schulhaus zurück, wo sie neben den Truppen schlafen. In der Stadt kommt es zu Scharmützeln. Auf dem Paradeplatz wird ein Soldat angeschossen, der danach an den Verletzungen stirbt.

Die Revolution, von der die Soldaten in Luzern noch spasseshalber sangen, bricht am 9. November auch in Deutschland los. Der Kaiser dankt ab, und der Reihe nach verschwinden die Fürsten und Herzoge der kleinen deutschen Ländereien von ihren Thronen. Die Republik wird ausgerufen und in den folgenden Tagen wird der «Rat der Volksbeauftragten» gegründet. Die Umwälzung ist total.

 

Ohne Information

In Zürich informiert der Feldweibel die Soldaten, dass die Truppe in den nächsten Tagen an den Rhein verlegt werde, wohl um das Problem der Flüchtlinge  zu meistern. Am 11. November wird im Wald von Compiègne in Frankreich der Waffenstillstand zwischen Deutschland und den Alliierten unterzeichnet. Die Truppenverlegung fällt dahin. Die Sanitäter bleiben bei ihren Kranken.

Was da draussen, über den Grenzen,  geschieht, bleibt ihnen vorenthalten. Es gibt keine Nachrichten. Selbst mit den eigenen Angehörigen gibt es keinen verlässlichen Austausch. Louis und seine Frau Waldburga schreiben sich zwar täglich, schicken einander Pakete, Briefe, Karten. Aber zum einen funktioniert der Bahntransport nicht. Ein, zwei Züge zählt Wally, die täglich noch an Kaltbach vorbeifahren – ob eine Auswirkung der Grippe oder des Streiks, bleibt unklar.

Der Postbote erkrankt. Die Post in St. Erhard wird wegen Grippe geschlossen, Sursee ist jetzt auch das Postbüro für Kaltbach. Die junge Frau zuhause leidet unter der Unsicherheit, dem Mangel an Nachrichten: Ist er in die Streiks verwickelt oder ist er krank? Sie schreibt: «So ganz von aller Nachricht abgeschlossen, kein Zug, keine Post. Trotz meinem Vorsatz, mich nicht unnötig zu ängstigen, habe ich quälende Stunden durchlebt, weil der Gedanke, du könntest krank liegen, immer und immer wieder in mir aufstieg. In solch niederdrückenden Augenblicken halte ich es kaum aus und möchte fort ins Weite, als könnte ich damit Angst und Schmerz entfliehen.»

 

Täglich neue Patienten

In Zürich füllen sich die Lazarette der Truppen mit Kranken. 18 Schulhäuser seien in Militärspitäler umgewandelt worden, berichtet Gut, und «es kommen täglich mehr Patienten an, wenigstens 15 Prozent unseres Bataillons sind schon krank», schreibt er am 13. November. Zum Glück kämen die Zürcher Frauen der Sanität tüchtig zu Hilfe.

Die Armeeführung markiert weiterhin Härte. In Grenchen werden drei Streikende erschossen. Einen Tag später wird der Landesstreik abgebrochen. Die Anliegen der Streikenden gehen allmählich in den politischen Prozess über.

Doch das «Kranken-Depot» in Zürich lässt den Sanitäter nicht so rasch los. Dabei beunruhigt die Ungewissheit über sein Befinden die Angehörigen weiter. Am 17. November stürmt Louis’ Schwester aus Aarburg ins Haus in Kaltbach und fragt ganz aufgeregt nach seinem Zustand. Ihre Angst ist nicht von ungefähr, berichtet Louis doch zwei Tage später über den Rapport seines Feldweibels, dass in seinem Bataillon von 800 Mann noch 200 aufrecht seien, die andern 600 hätten Grippe und seien in die Spitäler verteilt.

Noch am 22. ist das Schulhaus «ziemlich angefüllt mit Patienten. Es sterben fast täglich».

 

«Die Welt im Fieber»

Nicht nur im Zusammenhang mit dem Landesstreik starben in der Schweiz Soldaten an der Grippe. Von den Armeeangehörigen, die an der Grenze im Jura im Dienst standen, erkrankten – je nach Truppenteil – 40 bis 80 Prozent, berichtet das Rote Kreuz später. Insgesamt seien der Grippe 1805 Soldaten zum Opfer gefallen. In der Zivilbevölkerung gab es fast 25’000 Tote bei insgesamt 748’232 gemeldeten Krankheitsfällen.

Und nun macht Laura Spinney, die englische Wissenschaftsjournalistin, in ihrem neuen Buch «1918 – Die Welt im Fieber» klar, dass die sogenannte «Spanische Grippe» ein weltumspannendes Ereignis war. Möglich, meint sie, dass sie von China ausgegangen sei, wo ein Arzt namens Wu Lien-teh im Winter 1917 in Shanxi eine ähnliche Seuche diagnostiziert habe. Zudem, China hat mit den Franzosen und Briten die Entsendung einer Arbeiterbrigade aus dem Norden Chinas zur rückwärtigen Unterstützung der Trupppen vereinbart. Tausende Chinesen kamen so nach Frankreich und Belgien, aber auch nach Russland.

Laura Spinney vermutet den Ausgangspunkt der «Spanischen Grippe» aber auch – mit oder ohne Kontakt mit jenen Chinesen –  im harten Armee-Ausbildungslager bei Etaples in Nordfrankreich oder im Camp Funston im US-Staat Kansas. Nur in Spanien lag der Ursprung der Grippe nicht. Spanien stand nur früh im Fokus der Öffentlichkeit, weil es dort keine kriegsbedingte Zensur gab, über die Schwere der dortigen Grippe also früh überall informiert werden konnte.

 

Krieg mitschuldig an der Grippe

So oder so fand die Grippe den Weg über den ganzen Erdball, gefördert durch die gewaltigen Truppenverlegungen und durch die kriegsbedingte Armut der Völker. Die Schätzungen der Anzahl Toten gingen in den Zwanzigerjahren von 20 Millionen aus. Spinney schätzt aber diese Zahl nach genauerem Studium bis gegen 100 Millionen. Das sind viel mehr, als im Ersten (20 Millionen) und Zweiten Weltkrieg (55 Millionen) zusammen gestorben sind. Die Grippe dezimierte die Heere auf beiden Seiten. Spinney: «In Europa waren mehr Menschen im Krieg gestorben als an Grippe, doch für alle andern Kontinente traf das Gegenteil zu.»

Dabei weist sie darauf hin, dass viele wichtige Partner der Friedensverhandlungen durch die Grippe dermassen geschwächt wurden, dass sie sich nicht mit voller Kraft für die besseren Lösungen einsetzen konnten. Das traf etwa auf Woodrow Wilson, den amerikanischen Präsidenten, zu, der massvoll gegen die unterlegenen Mittelmächte vorgehen und sofort einen Völkerbund gründen wollte, durch die eigene Erkrankung aber derart geschwächt war, dass er in den Nachfolgeverhandlungen nicht mehr dabei sein konnte. Dass dann ebendiese Verhandlungen mit ein Grund für den Zweiten Weltkrieg wurden, lässt erahnen, welch enorme Auswirkungen die Grippe auch auf politischer Ebene hatte.

 

Nicht bloss ein Krieg

Der Erste Weltkrieg war nicht bloss ein Kriegsgeschehen. Durch ihn verarmten weite Teile der Bevölkerung, insbesondere der Arbeiterschaft, auch in der Schweiz, wo die Fabrikanten sich als Kriegsgewinnler gebärdeten und ihre Gewinne für sich behielten. Schlimm war insbesondere, dass Arbeiter, die  über Jahre Militärdienst leisten mussten, nicht mehr für ihre Familien aufkommen konnten. Für die ausgenutzte Arbeiterschaft setzte sich die Linke ein, die damals aber im schweizerischen politischen System  noch wenig ausrichten konnte und durch die kommunistische Revolution im Osten in Verruf geraten war. Auf den 9. November 1918 rief das «Oltener Aktionskomitee», der Führungsstab der Arbeiterschaft, zum Generalstreik in 19 Städten auf. Und am 12. November rief es den Landesstreik aus, der aber wegen der Gefahr, dass er durch die Armee niedergeschlagen wird, am 14. November abgebrochen wurde. Die nachfolgenden politischen Diskussionen führten dennoch zu einem beachtlichen Fortschritt für die Linke und für das Land.


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