Kommt es zu Mobbing oder sogar zu gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen Lernenden, tritt die Schulsozialarbeit auf den Plan. Sie versucht, zusammen mit den Beteiligten das Problem zu lösen. Symbolbild/Foto Keystone/Westend61/Zerocreatives
Kommt es zu Mobbing oder sogar zu gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen Lernenden, tritt die Schulsozialarbeit auf den Plan. Sie versucht, zusammen mit den Beteiligten das Problem zu lösen. Symbolbild/Foto Keystone/Westend61/Zerocreatives
11.07.2018

«Cyber-Mobbing wird immer brutaler»

Die Stadtschulen Sursee führten vor zehn Jahren die Schulsozialarbeit ein. Seither betreuten Georgio Wiss und Karin Rohner zahlreiche Problemfälle. Was sich in den zehn Jahren änderte und welche Herausforderungen die Zukunft bringt, erklären sie im Interview.

Die Schulsozialarbeit an den Stadtschulen Sursee feiert heuer ihr zehnjähriges Bestehen. Wie ging man mit sozialen Problemen in der Schülerschaft um, bevor die Schulsozialarbeit eingeführt wurde?
Georgio Wiss: Grundsätzlich war es so, dass in Sursee der Schulpsychologische Dienst dafür zuständig war. Teilweise wurde auch die Sozialberatung hinzugezogen. Die Lehrerschaft und die Jugendarbeit deckten ebenfalls einen Teil ab. Nach der Einführung der Schulsozialarbeit war in der Lehrerschaft da und dort die Aussage zu hören, dass es diese schon 20 bis 30 Jahre früher gebraucht hätte.

Was hat sich in den zehn Jahren im Umgang der Schülerinnen und Schüler untereinander und mit den Lehrpersonen verändert?
Karin Rohner: Ich habe das Gefühl, dass die Fälle komplexer geworden sind. Es fällt auf, dass Themen im Suchtbereich viel früher, und zwar bereits Ende der ersten Sekundarstufe, aktuell werden. Zudem haben Cyber Mobbing und Sexting – das Verschicken von Fotos, die nicht in die Öffentlichkeit gehören – massiv zugenommen.
Georgio Wiss: Die Digitalisierung brachte schon eine neue Dimension mit sich. Sie macht es einfacher, einen Mitschüler oder eine Mitschülerin blosszustellen und zu erniedrigen – die Lernenden sprechen von «Abemache», als wenn man einander Auge in Auge gegenüberstehen müsste. Eine weitere Veränderung ging mit dem gesellschaftlichen Wandel einher. Dass immer öfter beide Elternteile arbeiten, wirkt sich schon aus. Die beiden Ex­treme der «Helikoptereltern», die sich dauernd um die Kinder kümmern, und jener Eltern, die kaum wissen, was bei ihren Kindern läuft, haben zugenommen.

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Was sind heute die grössten sozialen Probleme, mit denen die Schülerinnen und Schüler an Sie gelangen?
Karin Rohner: Häufig geht es um Ausgrenzung und Mobbing. Oft sind es Kinder oder Jugendlichen, die traurig sind, weil sie keine «Gschpändli» haben. Immer wieder kommen auch Schülerinnen und Schüler mit familiären Problemen – Stichwort Scheidungskinder – zu uns. Auch häusliche Gewalt ist leider immer wieder ein Thema.
Georgio Wiss: Häufig kommt die Schulsozialarbeit auch bei Fehlverhalten ins Spiel. Zum Beispiel, wenn ein Schüler ausrastet – die Frustrationstoleranz ist kleiner geworden – oder wenn ein Mangel an Motivation vorliegt, was gerade in der Pubertät nicht selten vorkommt.

Welche Unterschiede zwischen Mädchen und Buben gibt es in Bezug auf die sozialen Probleme?
Georgio Wiss: Am auffälligsten sind die Unterschiede, wenn die Lernenden in die 1. Sek kommen. Pausenplatz-Rangeleien unter den Jungs, die sich ihren Platz erobern wollen, sind da symptomatisch. Dies wird noch verschärft, wenn Jugendliche aus verschiedenen Wohngemeinden, die selber keine Sekundarstufe haben, aufeinandertreffen. Probleme kanns bei den Jungs auch in der 3. Sek geben, wenn sie das Thema Berufswahl zuerst nicht ernst genug nehmen und dann Ängste aufkommen.
Karin Rohner: Ich stelle fest, dass es bei den Buben oft um das Nichteinhalten von Regeln, um Motivationsprobleme und um Störungen des Unterrichts geht. Bei den Mädchen überwiegen familiäre Probleme, Stressbewältigung durch Hautritzen oder Essstörungen sowie die Gruppenbildung – dazu gehören, wer geht mit wem und so weiter. Letzteres ist vor allem in der Primarschule ein Thema.

Wie siehts diesbezüglich beim Suchtverhalten aus?
Georgio Wiss: Bei der Häufigkeit des Rauchens und Kiffens gibts Wellenbewegungen zwischen den Jahrgängen.
Karin Rohner: Sucht ist eher ein männliches Problem, aber wir stellen fest, dass die Mädchen diesbezüglich am Aufholen sind.

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Welche Massnahmen können Sie ergreifen?
Georgio Wiss: Als niederschwellige Stelle schaut die Schulsozialarbeit die einzelnen Fälle an und macht eine Triage. Wenn eine Lösung möglich ist, versuchen wir diese durch ein methodisches Vorgehen zu erreichen. Wir sind die erste Anlaufstelle und müssen daher bei unserer Arbeit mehr in die Breite und weniger in die Tiefe gehen.

Konnten Sie bislang in allen Fällen eine Lösung finden?
Karin Rohner: In ganz schwierigen Fällen kann eine Gefährdungsmeldung an die Kinder- und Erwachsenenschutzbehörde Kesb durch die Schulleitung erfolgen. Möglich ist auch die Anordnung von Time-outs. Die Schulsozialarbeit begleitet diese und schaut, dass es gut läuft. Als Ultima Ratio stünde dann ein Schulverweis, die Umplatzierung in eine andere Gemeinde oder an eine Sonderschule, zur Verfügung.

Wie häufig kommt es zu einer Gefährdungsmeldung und Time-outs?
Georgio Wiss: Pro Schuljahr ist beides im Durchschnitt zwei- bis dreimal nötig.

Auch Mobbing ist ein Fall für die Schulsozialarbeit. Was raten Sie Schülerinnen und Schülern, die davon betroffen sind?
Karin Rohner: Zuerst braucht es eine genaue Situationsanalyse. Denn manchmal handelt es sich gar nicht um Mobbing. Ein solches liegt vor, wenn es wiederholt, in einem regelmässigen Rhythmus, über eine längere Zeit, gezielt auf eine Person ausgeübt wird und dabei das Machtverhältnis nicht ausgeglichen ist. Aufgrund dieser Situationsanalyse kann man die geeigneten Massnahmen in die Wege leiten.
Georgio Wiss: Eine gute Massnahme ist etwa der «No Blame Approach». Bei diesem wird der Mobbing-Fall im Klassenverband thematisiert, ohne Schuldige zu benennen. Es bildet sich dann eine Unterstützungsgruppe für die betroffene Person, in die auch der «Täter» einbezogen wird. Gemeinsam sucht diese Gruppe nach Wegen, aus der Situation herauszukommen. Auch Filme und Diskussionsrunden in der Klasse können hilfreich sein. Aber nicht selten ist letztlich nur über den Einbezug der Eltern eine Besserung zu erreichen.
Karin Rohner: In den sozialen Medien ist es besonders schwierig, Mobbing-Konflikte beizulegen, weil diese oft in einem anonymen Rahmen stattfinden. Da funktioniert der «No Blame Approach» nicht. Kommt es zu Morddrohungen, muss die strafrechtliche Ebene miteinbezogen werden.

Wie oft kommen Mobbing-Fälle vor?
Georgio Wiss: Dieses Schuljahr befasste ich mich mit vier bis fünf solcher Fälle.
Karin Rohner: Die Tendenz ist zunehmend. Erschreckend ist, dass Cyber Mobbing immer brutaler praktiziert wird und zusehends auch auf die Primarstufe überzuschwappen droht.

Mittlerweile kommt rund Hälfte der Schülerinnen und Schüler aus eigenem Antrieb auf Sie zu, Tendenz steigend. Woran liegt das?
Georgio Wiss: Ich denke, das hat sehr viel damit zu tun, dass die Schülerinnen und Schüler uns und unser Angebot mittlerweile sehr gut kennen. Wir geniessen ihr Vertrauen, da wir sie nicht sanktionieren, sondern beraten und begleiten.
Karin Rohner: Auf der Primarstufe ist es oft so, dass die Lehrpersonen den Lernenden unseren Dienst empfehlen, und dann kommen diese von selber zu uns.

Wo sehen Sie die wichtigsten Herausforderungen, die in Zukunft auf die Schulsozialarbeit zukommen werden?
Georgio Wiss: In Sursee ist es ganz klar das Wachstum, das zusätzlichen Schulraum unumgänglich macht. Mittelfristig muss auch die Schulsozialarbeit ausgebaut werden. Wir sind teilweise jetzt schon am Anschlag. Und mit der Digitalisierung und der damit einhergehenden zunehmenden Vereinsamung kommt noch einiges auf uns zu.
Karin Rohner: Positiv ist, dass unser Team ab dem kommenden Schuljahr durch eine permanente Praktikumsstelle verstärkt wird. Dass die Schulsozialarbeit in Sursee so gut funktioniert, ist nicht zuletzt der guten Vernetzung und Zusammenarbeit mit den Fachstellen zu verdanken.

Daniel Zumbühl


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