«Die Region ist im Kantonsrat gut vertreten und vernetzt»: Die drei Kantonsräte Carlo Piani (CVP, links), Yvonne Zemp (SP) und Andreas Hofer (Grüne) vertreten mitunter die Interessen der Region im Kantonsrat – neben den Interessen ihrer Fraktion, die «oft überwiegen» würden. Foto moc
«Die Region ist im Kantonsrat gut vertreten und vernetzt»: Die drei Kantonsräte Carlo Piani (CVP, links), Yvonne Zemp (SP) und Andreas Hofer (Grüne) vertreten mitunter die Interessen der Region im Kantonsrat – neben den Interessen ihrer Fraktion, die «oft überwiegen» würden. Foto moc
03.10.2018

Das Zentrum ist am Scheideweg angelangt

In den vergangen zehn Jahren habe sich in der Region viel getan, sind die drei Surseer Kantonsräte Carlo Piani (CVP), Yvonne Zemp (SP) und Andreas Hofer (Grüne) überzeugt. Im Interview erklären sie, wo der Schuh aktuell noch drückt.

Sursee boomt und wächst. Gleichzeitig ist ein Unbehagen in der Bevölkerung spürbar. Wie nehmen Sie das Wachstum in Sursee wahr?
Carlo Piani: Vielerorts fahren die Kräne auf, viele Bauprojekte werden aufgegleist. Die Bevölkerung reagiert auf die enorme Geschwindigkeit des Wachstums, es bereitet ihnen Sorge.
Andreas Hofer: Es gibt viele Neuzuzüger, die Sursee kennenlernen, wie es heute ist. Ich wohne hingegen seit 52 Jahren hier und merke: Das Wachstum war immer gross, doch in den vergangenen Jahren ist es noch schneller und hektischer geworden. Die Bevölkerung kann nicht mehr Schritt halten damit.
Yvonne Zemp: Sursee ist hervorragend gelegen und ist Pendlerstadt und Zentrumsort zugleich. Zusehends verschwimmen die Grenzen zwischen Sursee und seinen Nachbargemeinden. Dass wir heute verdichtet bauen, ist deshalb wichtig und richtig.

Ist Sursee Opfer des eigenen Erfolgs geworden?
Zemp: Ja, vielleicht. Doch über die politische Steuerung hätte man bereits früher genug Handhabe gehabt, das Wachstum in die richtige Richtung zu lenken.

Die Bodeninitiative der Grünen kommt also genau richtig?
Hofer: Die Bodeninitiative kommt spät, viel zu spät. Man darf nicht erst Sorge zum eigenen Boden tragen, wenn man schon fast keinen mehr hat. In diesem Zusammenhang ist Verdichtung ein Unwort, mit dem viel Schindluder betrieben wird. Verdichtet bauen bedeutet nicht nur in die Höhe, sondern eben auch, dass man mit weniger Wohnfläche zufrieden ist.

Viele Standortfaktoren sprechen für Sursee: gut gelegen, gut erschlossen, gute Infrastruktur. Ist es nicht eine Illusion, zu meinen, man könne das Wachstum nach Belieben steuern?
Hofer: Mit dem neuen Bau- und Zonenreglement will man das Wachstum lenken. In Sursee bemängle ich jedoch, dass man die Bevölkerung nie gefragt hat, wohin sie will.
Piani: Es gab ein öffentliches Mitwirkungsverfahren, wo sich die Bürger einbringen konnten. Man hat nicht über ihre Köpfe hinweg entschieden.
Zemp: Und der kantonale Richtplan gibt die Entwicklung entlang der Y-Achse Luzern–Rontal–Sursee vor.
Piani: Wachstum ist ja nicht per se schlecht. Der Surehof, der auf dem Areal der Frischfleisch AG entsteht, ist ein gutes Beispiel, wie man auf einer grossen Fläche verdichtet und gut bauen könnte.
Hofer: Das ist ein qualitatives Wachstum, gegen dieses wehre ich mich überhaupt nicht. Doch wächst eine Stadt, werden der Gewinn oft privatisiert, die Kosten sozialisiert. Es geht vergessen, dass der Steuerzahler letztlich für die Verkehrsinfrastruktur oder die Wasserversorgung aufkommt.

Neben dem Bauboom: Wo drückt den Surseern aktuell sonst noch der Schuh?
Unisono: Beim Verkehr.
Piani: Die Verkehrsplanung muss regional und auf die Ortsplanung abgestimmt sein.
Zemp: Es gibt ein gutes Mobilitätskonzept, und das neue Bau- und Zonenreglement nimmt Rücksicht auf Mobilitätsbedürfnisse. Aber noch immer gibt es viele Baustellen. Das Konzept empfiehlt unter anderem die öV-Bevorzugung im Kern von Sursee, bessere Velowege, und dies möglichst auf der bereits bestehenden Infrastruktur.

Muss die Mobilitätsinfrastruktur ausgebaut werden?
Zemp: Wir sind heute an einem Scheideweg angelangt, wo wir städtischer und grossräumiger planen müssen. Wenn durch öV-Bevorzugung die Busse in Sursee pünktlicher werden sollen, braucht es dazu eine angepasste Infrastruktur. Das Projekt Masterplan Bahnhof drängt und ist eigentlich schon heute zu klein dimensioniert. Es ist auch fragwürdig, wieso man den neuen Bahnhof nicht von Anfang an behindertengerecht geplant hat, das geht heute einfach nicht mehr. Mit neuen Linienführungen in den Zentrumsgemeinden  sollen künftig Nachbargemeinden oder die Industrie besser erschlossen werden.

Wie können der öV und der Langsamverkehr noch stärker gefördert werden?
Zemp: Durch eine bessere Erschliessung und öV-Bevorzugung in den Kernzonen. Vermehrt sind Park-and-Rail-Angebote gefragt. Hier ist Sursee immer noch sehr kleinstädtisch: Parkplätze im Zentrum sind noch zu stark gewichtet.
Hofer: Je mehr man im Zentrum auf Wohnraum statt auf Dienstleister und Gewerbe setzt, umso mehr nimmt der Pendlerverkehr ab, hoffe ich. Klar ist zudem, dass man die Verkehrsfläche und die Parkplatzzahl nicht auf Spitzen ausrichten kann. Ausserhalb der Stosszeiten sind viele Verkehrsknotenpunkte in Sursee gut zu befahren.

Für Themen wie den Verkehr oder das Bauen braucht es eine regionale Perspektive. Müssten die Gemeinden noch enger zusammenarbeiten, als dies schon heute mit der Plattform Sursee plus der Fall ist?
Piani: Sursee plus ist in vielerlei Hinsicht ein schwerfälliges Konstrukt, eine Ausdehnung macht keinen Sinn. Viel besser ist es, bestehende Strukturen zu pflegen und bei Grossprojekten zusammenzuspannen. Das neue Sekundarschulhaus auf dem Zirkusplatz in Sursee ist ein gutes Beispiel, wie man von Anfang an viele regionale Akteure involviert.
Hofer: Sursee hat diesbezüglich gelernt, zukunftsgerichtet und ganzheitlicher zu denken. Früher wurde gebaut, und bei den Nachbargemeinden hat man die hohle Hand gemacht.
Zemp: Ja, regionales Denken und Handeln werden noch wichtiger. Die Nachbargemeinden sind weniger attraktiv, wenn Sursee nicht attraktiv ist. Sursee hat viel investiert, das gesellschaftliche Angebot ist ein Magnet. Davon profitieren auch die umliegenden Gemeinden.

Fusionsgespräche drängen sich nicht mehr auf?
Zemp: Fusionen sind immer ein politischer Prozess und momentan nicht im Fokus. Der Weg geht aktuell über gemeinsame Projekte.
Hofer: Generell bin ich sehr fusionskritisch. Statt grösser sollte man lieber wieder kleiner werden und zum Beispiel die Quartiere stärken. Durch Fusionen nimmt die politische Beteiligung ab, noch weniger Leute kommen an die Gemeindeversammlungen. Zudem zeigt das Beispiel der Stadt Luzern, dass geografische Grösse nicht mit politischem Gewicht gleichzusetzen ist.

Apropos politisches Gewicht: Das zweite Zentrum des Kantons gehört fest zum Selbstverständnis der Surenstadt. Macht der Kanton genug für Sursee?
Piani: Das zweite Zentrum würde mehr Gewicht erhalten, wenn mehr kantonale Dienststellen und Unternehmen im Raum Sursee angesiedelt würden. Davon würde die gesamte Region profitieren. Im Moment scheint es mir aber, dass die Entwicklung beim Kanton in die andere Richtung läuft. Es werden vermehrt Pflöcke herausgezogen, nicht gesetzt.
Hofer: Was gegen die Kantonsverfassung ist, denn Dienstleistungen müssen dezentral erbracht werden.
Zemp: Unsere Region ist wirtschaftlich stark. Im Gegensatz zum Seetal oder Entlebuch braucht sie weniger Unterstützung vom Kanton. Was uns aber wichtig ist, dafür kämpfen wir.

Stichwort Spitalstandort: Bald hat Schenkon vielleicht ein Spital.
Piani: Für mich gehört zu Sursee ein Spital, das ist mitunter auch eine Prestigefrage.
Hofer: In Sursee wurde viel Geld in die Spitalinfrastruktur investiert. Macht ein neuer Standort dann überhaupt Sinn? Vor allem, wenn man bedenkt, dass das neue Spital im Kontext der Verdichtung quer in der Landschaft steht und in die Breite gebaut werden soll.
Zemp: Das Spital muss sich zuerst klar werden über seinen Kernauftrag und seine Strategie. Einerseits soll das Spital in Autobahnnähe zu stehen kommen, andererseits erfordert die steigende Zahl ambulanter Behandlungen öV-Nähe. Das geht nicht auf.

Bleiben wir beim Verhältnis von Region und Kanton. Reichen drei Kantonsräte, um die Interessen der grössten Wahlkreisgemeinde im Kanton zu vertreten?
Piani: Die Region ist im Kantonsrat gut vertreten und vernetzt. Mehr regionale Kantonsräte gäben vielleicht ein anderes Gewicht, doch bei politischen Themen überwiegt letztlich meistens die Fraktionsmeinung.
Hofer: Das stimmt, in erster Linie denke ich als grüner Politiker. Bei vielen Themen gehen die Meinungen weit auseinander, die politische Haltung entscheidet.

Bei welchem Themen lobbyieren Sie zusammen für die Region?
Zemp: Beim öV oder Velowegnetz. Hier haben wir ein gutes lokales Konzept, das nicht mit jenem des Kantons zusammenwirkt. Da haben wir etwas erreicht.

Wechseln wir zurück auf die Gemeindeebene. Ganz plakativ: Welche Note geben Sie der Politik des Stadtrats?
Piani: Eine Fünf. Der Stadtrat ist anders unterwegs als noch vor zehn Jahren, tritt vermehrt als Einheit auf. Wie Heidi Schilliger und Michael Widmer das neue Sekundarschulhaus aufgezogen haben, finde ich bemerkenswert.
Hofer: Ein «Gut», aber mit viel Luft nach oben. Das Auftreten gegenüber den Nachbargemeinden hat sich stark verbessert, ist nicht mehr ein arrogantes Gehabe.
Zemp: Als Gesamtbild gut, bei den verantwortlichen Stadträten gibt es Qualitätsunterschiede. Der Fall Buchenhof zum Beispiel hat Spuren hinterlassen, die wir bei der Ortsplanungsrevision werden ausbaden müssen. In Finanzfragen ist man seriös unterwegs, es wird realistisch budgetiert. Zudem haben wir gute Leute in der Verwaltung, die starke Arbeit leisten.

Wie erleben Sie die politische Kultur in Sursee unter den Parteien?
Piani: Als ich noch Ortsparteipräsident war, trafen sich die Parteien regelmässiger und haben über übergeordnete Themen gesprochen. So haben wir eine gemeinsame Eingabe an den Stadtrat gemacht, in der wir höhere Parteibeiträge gefordert haben. Diese Diskussionskultur unter den Parteien ist ein bisschen verschwunden.
Hofer: Es wäre wichtig, die Köpfe häufiger zusammenzustecken – gerade bei den Bürgerlichen.
Zemp: Bilateral werden durchaus Themen mit einzelnen Parteien besprochen. Leider  hört man von der SVP selten ein Votum an Gemeindeversammlungen.

Welches Problem hat die SVP in Sursee?
Piani: Die SVP scheint die Wähler bei vielen Themen vereinen zu können. Geht es darum, Ämter zu besetzen, mutet man ihnen dies nicht zu.
Zemp: Es wäre wünschenswert, wenn sich die Köpfe auch zeigen, die zum Beispiel in der Zeitung eine Meinung vertreten.

Die Beteiligung der Bevölkerung an den Gemeindeversammlungen ist in Sursee sehr tief. Es gibt Leute, die sich ein Stadtparlament wünschen.
Hofer: Ein Stadtparlament hat Vor- und Nachteile. Sicher entstehen zusätzliche Kosten, doch aus demokratischen Überlegungen macht es Sinn. In Sursee bestimmt derzeit ein Prozent der Bevölkerung über rund 10’000 Einwohner.
Zemp: Ein Stadtparlament war bereits bei den Fusionsgesprächen ein Thema. Doch auch dann hätten wir wohl noch nicht die kritische Grösse überschritten, die es dazu bräuchte. Zudem findet an der Gemeindeversammlung wirklich noch Basispolitik und nicht nur Parteipolitik statt.
Piani: Sursee ist zu klein für ein Stadtparlament. Wie der Kantonsrat zeigt, ist der Parlamentsbetrieb schwerfällig und blockiert bisweilen. Und das System der Gemeindeversammlung ist ja nicht per se schlecht: Interessierte und kritische Personen kommen und geben ihre Voten ab.
Hofer: Was aus Gründen der Demokratie jedoch drängender ist als ein Stadtparlament, ist eine bessere Informationspolitik des Stadtrats. Wer nicht parteipolitisch organisiert ist, wird nur unzureichend informiert über aktuelle Themen. Ein offizielles Publikationsorgan ist dringend nötig.

Zuletzt und der Vollständigkeit halber: Am 31. März 2019 wird gewählt. Treten Sie wieder an?
Piani, Hofer, Zemp: Ja.


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