04.05.2022

Ihr Vater schenkte ihr ein zweites Leben

von Franziska Haas

Die Oberkircherin Seline Zürcher lebt seit über sechs Jahren mit einer gespendeten Niere. Im Hinblick auf die Abstimmung am 15. Mai über das neue Transplantationsgesetz erzählt sie von ihrem Schicksal.

Es ist Montag, der 19. Oktober im Jahr 2015. Seline Zürcher liegt in einem Spitalbett im Universitätsspital Basel und wird auf ihre Nierentransplantation vorbereitet. Der Spender ist ihr Vater. Vor der Operation hatte Seline nebst unzähligen ärztlichen Untersuchungen auch Gespräche mit ihrem Vater und einer Psychologin. Ihr Vater war schliesslich zwei Stunden unter dem Messer, sie etwas mehr als vier weitere Stunden. Danach war sie zwei Tage lang auf der Intensivstation.

Alle drei Monate nach Zürich

Bis zur Transplantation 2015 hatte Seline Zürcher bereits ein schicksalhaftes Leben hinter sich. «Ich hatte zwar eine unbeschwerte Kindheit», erinnert sich Seline. Ihre Mutter war das erste Mal alarmiert, als sie mit 12 Jahren einen sehr hohen Blutdruck hatte. «Wie jede umsorgende Mutter ist sie gleich mit mir zum Hausarzt gegangen», erzählt sie. Bei einer Ultraschalluntersuchung stellte sich heraus, dass beide Nieren ungewöhnlich klein waren. Die Familie aus Willisau wurde direkt an die Nephrologie im Kinderspital Zürich verwiesen. Weitere Untersuchungen dort zeigten, dass Seline an einer Niereninsuffizienz leidet.  Ab diesem Jahr musste Seline Zürcher alle drei Monate ins Kinderspital und ihre Blutwerte überprüfen lassen. Damals war es für die junge Willisauerin sogar noch möglich, auf Leistung zu trainieren. Schon früh begeisterte sie sich für das Karate und war im Winter immer in den Bergen auf den Ski anzutreffen.

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«Ich hatte keine Angst vor dem Tod, sondern vor dem Leben nach der Operation mit den vielen Einschränkungen.»
Seline Zürcher über die Angst vor dem Tod

2015 machte Seline Zürcher ihren Masterabschluss in Biochemie an der Universität Bern. Bis Ende des Jahres 2014 haben ihre Nieren noch 10 Prozent von dem geleistet, was eine Niere im Normalfall leisten würde. «Es war ein schleichender Prozess. Es war nie von einem Tag auf den anderen ganz schlimm geworden», erzählt Seline. Zunehmend fühlte sie sich müde, war nach einem Tag an der Uni völlig erschöpft. «Zeitweise bestand mein Leben nur aus Schule / Arbeit und Schlaf.»

Ihr Vater spendete eine Niere

Und plötzlich ging doch alles ganz schnell. Als deutlich wurde, dass Seline eine Spenderniere braucht, wurde nach einigen Untersuchungen klar, dass ihr Vater eine Niere spenden kann. Seline versuchte jedoch die Transplantation möglichst lange hinauszuzögern. «Ich hatte keine Angst vor dem Tod. Ich hatte Angst vor den vielen Einschränkungen, die ich mit einer fremden Niere haben würde», sagt die 32-Jährige. Nach einer Transplantation sollten die Organspender keinen Kampfsport mehr treiben und sind wegen einem geschwächten Immunsystem auch bei einfachen Grippen eher anfällig. Dass das Karate und das Skifahren wegfallen würde, wollte sie zuerst nicht wahrhaben. Doch Seline wurde mit der Zeit immer schwächer und entschied sich dann doch für eine Transplantation. So wurden sie und ihr Vater im Oktober 2015 ins Spital gebeten und eine Niere ihres Vaters wurde in den unteren Bauchbereich von Seline hineinoperiert. Ihre beiden eigenen Nieren hat sie behalten.

«Mein Vater und ich feiern diesen Tag wie einen zweiten Geburtstag. »
Seline Zürcher

Trainieren trotz ärztlichem Verbot

Rund sechs Jahre nach der Transplantation sitzt Seline Zürcher gesund und lächelnd auf dem Stuhl und beantwortet alle Fragen zu ihrem Schicksal. Dass sie täglich zehn Tabletten schlucken muss, hält sie nicht davon ab, ihr Leben weiterzuleben. «Ich trainiere trotzdem wieder Karate und gehe im Winter auch Skifahren, obwohl es mir eigentlich nicht empfohlen wird», gibt sie zu. «Das Risiko, dass man sich irgendwo sonst verletzt, gibt es immer. Auch nur schon, wenn man über eine Strasse läuft», begründet sie ihren Entscheid ganz sachlich. Direktes Kämpfen beim Karate lässt sie aber bleiben, da die neue Niere im vorderen Bauchbereich nicht gut geschützt ist.

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Sie feiern ihren 2. Geburtstag

Weil sie mit ihrer Krankheit schon früh mit dem Tod in Berührung kam, stand sie ihm auch nie ängstlich gegenüber. «Ich habe eher Angst davor, etwas im Leben zu verpassen und dass ich nicht für alles Zeit finden werde, was ich immer wollte», sagt Seline, die nun mit ihrem Partner in Oberkirch wohnt. Deshalb beginnt sie diesen Herbst mit einem neuen Masterstudiengang und plant, bald mal ein paar Monate nach Hawaii zu reisen.

«Viele beschäftigen sich nicht mit der Organspende, weil sie dann über den Tod sprechen müssen.»
32-jährige Seline Zürcher

Manchmal stelle sie sich aber die Frage, ob sie die gesunde Niere ihres Vaters wirklich verdient habe und sie nicht ein anderer Mensch haben sollte. «Meinem Vater geht es aber gut und er hat nicht mit weiteren Einschränkungen zu kämpfen, das macht es einfacher für mich.» Mittlerweile feiern die beiden diesen Tag jedes Jahr wie einen zweiten Geburtstag von Seline. «Wir gehen in dieser Woche immer zusammen essen. Dieses Schicksal verbindet uns beide noch mehr», sagt sie.

Der Spendeausweis ist wichtig

Seline Zürcher möchte sich als Botschafterin von Swisstransplant, eine Schweizerische Stiftung für Organspende und Transplantation, für dieses Thema einsetzten und die Menschen sensibilisieren. «Viele Menschen möchten sich nicht mit der Organspende beschäftigen, weil sie dann über ihren eigenen Tod sprechen müssen», weiss sie. So machen sich viele Menschen erst nach ihrer Pension erste konkreten Gedanken dazu und ihnen ist oft gar nicht bewusst, dass gewisse Überlegungen und Gespräche schon vorher nötig sind.

Seline Zürcher setzt sich als Botschafterin für Swisstransplant ein.  (Foto Franziska Haas)

«In meinem Umfeld haben alle einen Spenderausweis», bestätigt Seline. Dabei spiele es ihr nicht mal eine Rolle, ob ihre Nächsten ihre Organe spenden wollen oder nicht. Es gehe darum, dass die Angehörigen der verstorbenen Person mit diesem Ausweis bei einer schwierigen Frage entlastet werden und die Ärzte nach dem Willen der verstorbenen Person handeln können. «Klar wäre es toll, wenn die Bevölkerung mit einem Ja abstimmen würde», meint Seline Zürcher. «Aber nur schon dank dieser Abstimmung befassen sich die Leute mit diesem Thema und für mich ist ein grosses Ziel damit schon erreicht.» So haben nun wohl einige Bürgerinnen und Bürger einen Spenderausweis beantragt oder mit ihrem Umfeld darüber gesprochen und entlasten damit ihre Angehörigen.  

Das würde sich ändern

Momentan gilt in der Schweiz das Prinzip der Zustimmungslösung bei der Organspende. Wenn eine Person während ihres Lebens einer Organspende zustimmt, dann können die Organe nach dem Tod gespendet werden. Ist der Wille der verstorbenen Person aber nicht bekannt, müssen die Angehörigen über die Organspende entscheiden. Sagt das Schweizer Stimmvolk am 15. Mai Ja zum indirekten Gegenvorschlag des Bundesrates und Parlaments, gilt neu die Widerspruchslösung. Wenn jemand seine Organe nicht spenden möchte, muss die Person das während ihres Lebens in ein Register eintragen lassen. Angehörige können die Organspende aber weiterhin ablehnen, wenn sie vermuten oder wissen, dass die Person ihre Organe nicht spenden wollte. Die Widerspruchslösung gilt beispielsweise in unseren Nachbarländern Frankreich, Italien und Österreich

Info

Transplantationsgesetz

-Durch die Widerspruchslösung haben Personen, die auf eine Organspende warten, höhere Chancen auf eine Spende.

-Die Angehörigen eines Verstorbenen können die Organspende immer noch ablehnen, wenn sie wissen oder vermuten, dass diese Person keine Organe spenden wollte.

-Die Widerspruchslösung entlastet die Angehörigen, wenn sie den Willen der verstorbenen Person nicht kennen.

-Die Widerspruchslösung verstösst gegen die Verfassung, da nicht mehr jede Person über ihren Körper bestimmen kann.

-Medizinische Eingriffe verlangen die Einwilligung der betroffenen Person. Das soll auch bei der Organspende so bleiben.

-Mit der Widerspruchslösung werden die Angehörigen stark belastet, weil sie belegen müssen, dass die verstorbene Person keine Organspende wollte.


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