18.03.2020

«Die Grippe haust auch in Sursee»

von Thomas Stillhart

Schon einmal alarmierte eine Grippe die Welt. Vor rund 100 Jahren grassierte die Spanische Grippe. Die damaligen Meldungen erinnern an die Gegenwart.

Der «Luzerner Landbote» (nachfolgend «Landbote») berichtete am 19. Juli 1918 über «Die Grippe in der schweizerischen Armee». Etwa 100 Todesfälle wurden damals gezählt. Auch greife die Epidemie unter der Zivilbevölkerung besorgniserregend um sich. Frauen und Töchter rufe man in Biel zu freiwilligem Hilfsdienst in den Militärspitälern auf.

Hilft Tabak, Milch und Honig?

Gleichzeitig wütete noch der Erste Weltkrieg, die Lage auf dem Arbeitsmarkt verschlimmerte sich. Der «Landbote» verbreitete die Meldung, dass Tabak ein Vorbeugungsmittel sei. Auch Milch oder Honig wurden genannt. Eine Woche nach dem ersten Bericht beschloss der Luzerner Regierungsrat: «Alle Feste, welche mit grösseren Menschenansammlungen verbunden sind, alle internationalen und interkantonalen Kongresse, alle grösseren Fest- und Vereinsversammlungen in geschlossenen Räumen, sowie alle Tanzanlässe werden bis auf weiteres verboten.»

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Am 8. August schrieb der «Landbote», dass die Kirchen geschlossen seien. «Wo viele Leute zusammenkommen, besteht Ansteckungsgefahr.» Und er bezweifelte diese Massnahme gleichzeitig, weil Fabriken, Eisenbahnen, Werkstätten und Wirtshäuser bis zu diesem Zeitpunkt noch geöffnet waren. «Wie mehr als in solchen ernsten Zeiten haben wir Gottes Trost und Gottes Hilfe nötig.»

In einer Woche 15 Todesfälle

Wiederum eine Woche später titelte die Zeitung: «Die Grippe als Warnung». «Lernt von dieser Grippe, dass Europa nicht mehr seuchensicher ist. Und endet den Krieg, bevor ein Pestbazillus ihn endet.»

Die Grippe erreichte mittlerweile die Region. Regelmässig veröffentlichte der «Landbote» ab August 1918 unter der Rubrik «Die Grippe im Kanton Luzern» Zahlen. So seien vom 21. bis 27. Juli 703 Krankheits- und 15 Todesfälle zu beklagen gewesen. «Gegen Ende August waren noch rund 340 Fälle zu verzeigen, und im September nahm die Kurve wieder eine starke Neigung nach aufwärts.» Seit dem 21. Juli seien im Kanton an der Grippe 58 Personen gestorben. Danach flaute die Grippewelle etwas ab.

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Info

Spanische Grippe bleibt ein Rätsel

Im Frühjahr 1918 tauchte die spanische Grippe erstmals auf. Erst richtig gefährlich und tödlich kehrte sie aber im Sommer zurück. In der Schweiz starben 24’500 Menschen – darunter besonders viele Soldaten. Unter den damals 4 Millionen Einwohnern infizierten sich 744’000 Personen. Unbeantwortet bleibt bis heute die Frage, warum besonders robuste Frauen und Männer im Alter von 20 bis 40 Jahren betroffen waren. Anfang 1919 flaute die Grippe geheimnisvoll ab. (sti)

Die Meldungen über plötzliche Todesfälle junger Personen mehrten sich im September wieder. Vom 15. bis am 21. September zählte das nun regelmässig publizierte «Grippe-Bulletin» auf der Landschaft 1415 Grippefälle und 22 Todesfälle. Der Kantonalturntag, der in Triengen hätte stattfinden sollen, musste verschoben werden.

Männerchor-Proben fallen aus

Surseer Männerchor und Cäcilenverein stellten ihre Proben «bis auf weiteres» ein. Der «Landbote» rief auf: «Da die Grippe bereits starke Verbreitung angenommen hat, macht sich ein bedeutender Mangel an Pflegepersonal fühlbar. Wir empfehlen den Aufruf im Inseratenteil der Beachtung aller disponiblen Personen und verweisen auf das erhebende Beispiel der französischen Schweiz, wo sich gegen 900 freiwillige Pfleger und Pflegerinnen aus allen Ständen den Grippekranken widmen.»

Am 22. Oktober notierte der «Landbote»: «Die Grippe haust auch in Sursee etwas unheimlich. Seit Samstag sind derselben drei Personen zum Opfer gefallen.» Eine Ausgabe später veröffentlichte die Ortsgesundheitskommission Sursee eine Bekanntmachung. Sie ordnete etwa an, dass «Leichengeleite, ausgenommen der nächsten Verwandten, bis auf Weiteres zu unterbleiben haben oder Wohnungen, in denen sich Kranke befinden, nach Anordnung der Ärzte zu reinigen sind».

«Alles Tanzen» war verboten

Vor Allerheiligen und Allerseelen 1918 schrieb der «Landbote» einen Leitartikel mit dem Titel «Totenklage Sterbeswehen und Allerseelentrost». In der gleichen Ausgabe Ende Oktober war ein «Beschluss betreffend die Bekämpfung der Influenza des Regierungsrats» abgedruckt. So war «alles Tanzen im grösseren oder kleineren Kreise verboten», wie auch Konzerte sowie gesangliche und musikalische Produktionen jeder Art. Gemeinden mussten Desinfektionsmittel bereit halten, sämtliche Theater und Lichtspieltheater wurden geschlossen.

Am Lebensbecher nippen

Zwischen dem 27. Oktober und dem 3. November zählte die Landschaft 2370 Neuerkrankungen und 38 Todesfälle – allein in Sursee erkrankten 120 Personen neu. Im November dominierten das Ende des Ersten Weltkriegs (11. November) und der Landesstreik (12. bis 14. November) den «Landboten». Entwarnung war jedoch noch verfrüht. Am 26. November platzierte die Zeitung auf Seite 1 – damals bestand die Zeitung aus vier Seiten – das Gedicht «Die Grippe» von einem Fr. Studer: «Damit ich an mein Stündlein denk’/Nehm’ ich es an als Kriegsgeschenk,/Das Sorgenkind, die Grippe – /Und danke Gott für jedes Gut/Solang ich mit gesundem Mut/am Lebensbecher nippe.»

Gleichzeitig bat das Militär-Grippespital in Luzern die Bevölkerung in Stadt und Kanton «um Zuwendung alter Leintücher oder Leinwandstoffe, sowie zu Wickelzwecken, um wollene Tücher». Kurz vor Weihnachten, am 20. Dezember, warb der katholische Frauenbund Sursee und Umgebung für einen «Grippepflegekurs Schwester Angelina Hodel vom Kloster Baldegg». Im Hirschen-Saal fand der Kurs am 26. und 27. Dezember statt.

«Eine erschütternde Zahl»

In der Heiligabend-Ausgabe schreckte die Kurznachricht «Totentanz der Grippe» auf. In Escholzmatt seien 44 Personen an der Grippe gestorben. «Eine erschütternde Zahl. Die Aufregung unter der Bevölkerung ist gross.» Anfang 1919 blieb die Grippe omnipräsent. Der Regierungsrat ordnete an, «jedes Maskengehen für Erwachsene und Kinder strengstens zu verbieten.» Ausgenommen seien einzig die historischen Umzüge Fritschiwagen in Luzern und Heiniwagen in Sursee. Auch das Tanzverbot blieb.

Die erste «Friedensfasnacht»

Ende Januar protokollierte der «Landbote» die Grippefälle vom 19. bis 25. Januar: Landschaft 408, Stadt Luzern 25. Die Situation erholte sich, ab dem 4. Februar durften die Statthalterämter Tanzbewilligungen «in geschlossener Gesellschaft erteilen, sofern in den betreffenden Gemeinden die Zahl der Grippefälle unbedeutend ist». Am 21. Februar lud Wirt Leonard Wüst im «Landboten» höflich ein: «Tanz am Schmutzigen Donnerstag im Hotel Hirschen. Hübsch dekorierter Saal, flotte Tanzmusik, gute Getränke und reichhaltige Küche.» Die Fasnacht konnte kommen.


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